Rio Quiquibey
Endlich! Nach tagelangen Gesprächen und Geplänkel haben wir mit Amigo Donato aus Rurre den Deal klar gemacht: 200 Dollar bar auf die Hand, plus eine letzte Tour mit unserem Spreuboot (Otter) und Melvin auf dem Rio Quiquibey.
Der Rio Quiquibey fließt durch das Reserva National Pilon Lajas und mündet oberhalb von Rurre in den Beni. Sollte der Beni, wie fast immer in der Regenzeit, zu viel Wasser führen und die Stromschnellen in der Balaschlucht deshalb unpassierbar sein, wird sich Amigo Donato auch um einen Transport mit dem Motorboot von der Flussmündung nach Rurre zurück kümmern. Dafür bleibt unser Boot nach der Tour bei Donato in Rurrenabque.
Da der Rio Quiquibey ein indigenes Schutzgebiet mit abgelegenen Weilern durchquert, wollen wir nach Rücksprache mit der zuständigen Behörde für ca. 100 Dollar Basismedikamente mitnehmen. Auf eine erste Anfrage zwecks Anzahl der Bewohner, vorhandenen Schulen und Medikamentenbedarf erhalten wir eine schlichtweg unverschämte Bedarfsliste, Summa Summarum über fast 4000 Euro! Da hat uns wohl jemand mit dem Gesundheitsministerium verwechselt! Der Arzt im Hospital streicht uns die Liste auf die notwendigsten Basismedikamente zusammen.
Der Streichung fiel auch der Alkohol zum Desinfizieren zum Opfer, da der sonst möglicherweise bei der ersten Fiesta getrunken wird. Letzten Endes enthält unser Gepäck vor allem diverse Schmerzmittel, Durchfallmittel, Entzündungshemmer, Einwegspritzen und Ampullen für Siedlungen mit Sanitätspunkten. Wichtig ist, dass die Medikamente bereits vor Ort bekannt sind. Trotzdem sollten in der Praxis noch ganz andere Probleme auftreten...
Aber los gehts ja erst morgen, denn heute ist Fiesta in Rurre. Das Ortsjubiläum wird jährlich mit Festumzug, Markt und Misswahl begangen. Die Plaza besteht seit zwei Tagen nur noch aus Fressbuden, die alle ihre eigenen übersteuerten Boxen aufgestellt haben und natürlich den ganzen Ort bis spät in die Nacht gleichzeitig mit verschiedenster Mugge schlechter Qualität beschallen. Gegen Mittags taucht ein verschwitzter Amigo Donato im St. Ana auf. Er will das Boot schon mal abholen damit er es im Festumzug gleich präsentieren kann. Ein Otter aus Lauenhain findet seinen Platz zwischen den Truppen der örtlichen Marine(!!!) und der Schutzheiligen des Ortes! Was für ne Karriere!
Tags darauf sitzen wir schwitzend im Bus Richtung La Paz. Unser Gepäck ist verstaut. Melvin döst auf dem Nachbarsitz. Zunächst fahren wir vier Stunden auf der zum Glück staubtrockenen Erdpiste nach Yucumo, dort hält der Bus für ein Almuerzo (Mittagsmenue aus Suppe, Reis mit Hühnchen und Salat; 0,80Euro). Im Bus herrscht reges Treiben, ein Kommen und Gehen. Urwaldbauern steigen mit ihren schweren Säcken ein und aus. Vor uns sitzt eine Mutter mit ihrem kleinen Jungen. Der Kleine ist quengelig und spielt im Gang zwischen den Sitzen. Bei einem der vielen Stopps wird der Daumen des Jungen in der zum Glück gepolsterten Tür zum Fahrgastraum eingeklemmt. Es dauert eine Ewigkeit bis der Fahrer endlich auf das Klopfen der Passagiere reagiert. Der Vierjährige brüllt wie am Spies. Der Daumen ist platt gequetscht, blutet um das Nagelbett und schwillt sofort dick an. Das einzige erste Hilfe- Material im ganzen Bus ist die Flasche mit 96%igem Alkohol. Den kippt die Mutter in regelmäßigen Abständen mit guter Absicht über die Wunden. Das Brennen muss höllisch sein, einmal würde reichen! Irgendwann wird es Ilka zuviel. Sie bittet den Busfahrer zu halten und holt unser Sanizeug aus unseren Rucksäcken. Notdürftig verarztet sie die Wunde. Das Verbinden ist bei der Schaukelei fast unmöglich. Die Mutter erzählt uns, dass es in ihrem Dorf weder Sanitätspunkt noch Medikamente gibt. Vom Fahrer erhält sie das Fahrgeld zurück. Hoffentlich investiert sie es in die medizinische Versorgung der Wunde!
Zwei Stunden später schmeißt uns der Fahrer im Nirgendwo raus, zeigt ins Tal und sagt dort unten fließt der Quiquibey. Wir sehen davon erstmal gar nichts, stehen etwas ratlos mit unserem Gepäckhaufen am Straßenrand. Da es schon recht spät ist fragen wir an der Hütte einer jungen Frau ob wir unsere Zelte hier aufstellen dürfen. Dann laufen wir an den Fluss. Der sieht verführerisch gut aus, wenig aber ausreichend Wasser. Weiter unten ist eine Schallstrecke zu erkennen. Auf den ersten Blick genau das Richtige für unser Boot! Ca. 300 km Urwaldfluss liegen vor uns. Der Fluss entspringt in der Sierra de Marimones und schlängelt sich an der Westseite der Sierra Muchanes bis zum Rio Beni. Das letzte Dorf vor der Mündung hat ein Funkgerät. Bis dahin müssen wir kommen.
6:30 Uhr treibt mich die Aufregung aus dem Zelt. Wegen der Blattschneideameisen hatten wir vorm Schlafengehen eine Benzinspur ums Zelt gezogen. Sie sind in ihren Löchern geblieben - Dorfsurvival! Ein wichtig redender Mensch ist auch schon da. Er will unser Permit für die Durchfahrt des Indigenagebiets sehen. Alles in Ordnung. Über Radiofunk will er uns angeblich bei den Dörfern ankündigen.
9:00 Uhr sind wir fertig mit packen. Das Boot ist sau-schwer. Ilka, la Perla, tront wieder in der Mitte. Begeistert paddeln wir durch die ersten Wellen. Der Fluss mäandert und in jeder Kurve gibt's ne Stromschnelle. Nach ein paar Minuten ist Torte Klitschnass und das Boot zum ersten mal vollgelaufen. Das Wasser hat ordentlich Druck. In einer steilen Rechtskurve passiert es dann. Der Fluss drückt mit aller Kraft gegen einen Felsen. Zehn Meter vorher, müssen wir noch im Schwall einigen tiefhängenden spitzen Ästen ausweichen. Durch die Wucht des Aufpralls wird Melwin aus dem Boot geschleudert. Schwimmend rettet er sich im Kehrwasser problemlos an das Ufer. Nun geht es Schlag auf Schlag. Drei Stunden wechseln sich größere Wellen mit Schwallstrecken ab. Sie liegen immer in den Kurven, die kurzen Geraden sind eher ruhig. Stellenweise sind die Wellen so hoch, dass mir das braune Wasser ins Gesicht klatscht. Ab und an sitzen wir auch mitten in der Strömung auf. Ein Otter ist eben kein Kajak. Mit grotesken Verrenkungen versuchen wir die Kiste wieder frei zu bekommen. Dabei geht man schon mal schwimmen. An die 10-mal müssen wir unser Boot ausleeren. Am Nachmittag werden die Arme immer länger, die Konzentration lässt nach. An einer kurzen aber schmalen Durchfahrt passiert es dann. Wir rammen einen Stein. Das schwere Boot kommt quer. Der Otter schlägt um. Melwin treibt vor uns im Wasser. Ilka und ich dahinter. Ilka hat die Hände voll Paddel und vergisst leider dabei die kleine Schnappschuss-Kamera in ihrem Ausschnitt. Als sie dran denkt steckt sie sich die Knipse in ihre große Klappe für die letzten Meter zur Sandbank. Aber zu spät. Scheiße!!! Unser gesamtes Gepäck haben wir ordentlich festgezurrt. Nur der Rucksack von Melwin treibt im Wasser. Nach einer kurzen Schwimmeinlage haben wir den Rucksack wieder eingefangen. Die Anspannung weicht nach einer kurzen Zigarettenpause. Vamos!
Zwei Kurven weiter flussab liegt das erste Krokodil im Ufersand, zumindest das erste, welches wir wahrnehmen. Ein Stück weiter nähert sich eins schwimmend unserem Boot. Grinsend beschließen wir, dass Rückenschwimmer und blaue Boote nicht in ihr Beuteschema passen!
16:00 Uhr ist Schluss. Sechs Stunden Paddelzeit reichen. Mein bei der letzten Kenterung aufgeschlagenes Knie schmerzt, genau wie die Arme. Bis zum Einbruch der Dunkelheit versuchen wir uns im Angeln. Ein kleiner Katzenfisch ist die magere Ausbeute. Wenn schon kein Fisch, dann wenigstens ordentlich Sandfliegen. Zum Abendessen gibt es heute lecker Reissuppe mit getrocknetem Rindfleisch. Dieses "Carne secco" ist stark gesalzen, in der Sonne getrocknet, unkaputtbar und verjagt mit seinem Geruch die Feinde. Aber schmeckt.
Der Nachthimmel über uns ist sternenklar. Hoffentlich bleibt die Nacht regenfrei. Wir schätzen die Entfernung bis zum ersten Dorf auf vier Tage. Eine Karte für dieses Gebiet haben wir nicht. So bleibt alles pure Spekulation.
Über Nacht ist es trocken geblieben, geschlafen haben wir deshalb trotzdem nicht besonders gut. Die Urwaldgeräusche, das Knacken im Unterholz, das Schreien der Nachtvögel, das Summen, Brummen, Flattern lässt uns öfters aufhorchen. Dazu kommt das Rauschen des Flusses. Unsere Zelte stehen nur zwei Meter über dem Wasserspiegel auf einer kleinen Sandbank. Vier Meter vor uns der Fluss, fünf Meter hinter uns der Urwald.
Zerschlagen und müde packen wir unsere Sachen zusammen. Der Fluss wird zahmer. Nur zweimal müssen wir unser Boot heute ausleeren. Der Rio mäandert ständig. Eine fast 360 Grad Kurve folgt der nächsten. Wir treiben an riesigen bis zu 100 Meter hohen Lehmwänden entlang. Erde bröckelt herab. Abgestürzte Bäume liegen im Wasser. Nur schnell weiter. An anderen Stellen reicht der dichte Urwald bis an das Ufer heran. Es wird der Tag der Tiere. Krokodile liegen am Ufer in der Sonne, mini bis 2 Meter lang. Capibarafamilien schauen verdutzt auf das im Wasser treibende blaue Gefährt. Ganz nah treiben wir an die Wasserschweine und ihre Jungen heran.
Komm wir in den unsichtbaren Sicherheitskreis der Tiere, gibt das Familienoberhaupt laute Bellgeräusche von sich. Die Sippe springt ins Wasser und taucht unter. An ruhigen Abschnitten beobachten wir die seltenen Fischotter. Eine Brüllaffenbande macht lautstark auf ihre Reviergrenzen aufmerksam. Die Schildkröten registrieren uns immer schon von Weitem. Noch ehe wir sie richtig wahrnehmen lassen sie sich blitzschnell ins Wasser plumpsen. Ganze Wolken von blaugelben Aras krakeelen in den Bäumen und über unseren Köpfen hinweg. So viele aufeinmal haben wir noch nie gesehen. Und die Farben! Melwin meint:" Isaelis en Gruppos"?
Einen sehr sicheren Nachtplatz finden wir heute gegen 17:00 Uhr. 20 Meter trennen uns vom Fluss. Nur das umgeknickte Schilfrohr neben unserem Camp erinnert uns an die Wassermassen. Abends läuft uns noch ein Reh vor die Kamera.
Größte Verwunderung lösen bei uns zwei einsame Fußspuren im Sand aus. Melwin meint, dass sie nur von den Tsimane Indianern sein können. Vereinzelte Gruppen würden noch in den Urwäldern leben.
Der Quiquibey wird am dritten Tag unserer Fahrt noch breiter, die "360 Grad Kurven" immer länger und größer Manchmal können wir durch die zerzauste Ufervegetation schon wieder Wasser erahnen, 20 Meter Fußmarsch und man könnte sich ne halbe Stunde Paddeln sparen. Solche riesigen Schleifen zieht der Fluss. Eine Regenzeit noch und er hat die Erdbarriere weggespült, sucht sich ein neues Bett. Der alte Arm wird zu einer Lagune und trocknet langsam aus. Bewegtes Wasser gibt es nur noch an einigen wenigen Stellen. Träge treibt die braune Brühe dem Rio Beni entgegen. Wie zerbrochene Streichhölzer stapeln sich Baumriesen am Ufer zu Hochhäusern in den Außenkurven auf. Es erfordert einige Konzentration den im Wasser liegenden Stämmen auszuweichen. Nur kein Loch im Boot riskieren! Die Urwalddörfer sind noch weit. Einen Urwalpfad gibt es nicht. Die Sandbänke sind übersät mit Tapirspuren die ins Dickicht führen. Unser Zelt steht heute direkt neben frischen Jaguarspuren. Herrlich soviel Natur auf einmal!
Wenn schon, denn schon!
Das Gestrüpp hinter uns überragt eine ca. vier Meter hohe Lehmböschung. Wir sind an einem vermeintlich Hochwasser sicherem Platz. An unseren Angeln zappeln heute schnell ein paar kleine Köderfische. Bei uns in Deutschland würden dieses schon als ordentlicher Fang durchgehen. Wir wollen die Grossen. Kurz nach dem Auswerfen ruckt es derart an meiner Schnurr, dass ich vor Schreck beinahe ins Wasser stürze. Mit letzter Kraft kann ich die Sehne zwischen meinen bloßen Händen festhalten. Der Fisch zerrt und zieht mit aller Kraft, springt aus dem Wasser, schwimmt von links nach rechts. Dabei schneidet mir die Sehne tiefe Striemen durch die linke Hand. Kurz vorm Ufer gibt die zum Zerreisen gespannte Angelsehne ein helles "pling" von sich. Der Katzenfisch hat sich losgemacht. Der fünf Zentimeter große Angelhaken ist noch dran. Nur ist er jetzt kein Haken mehr. Der Fisch hat das stabile Metall einfach gerade gebogen. Leider gelingt uns kein weiterer Fang. So gibt es heute wieder lecker Reis. Bis 21:00 Uhr sitzen wir bei klarem Himmel zusammen.
Innerhalb einer Stunde ändert sich die Wetterlage komplett. Furchteinflössende schwarze Wolken ziehen von allen Seiten auf. In den Bergen zucken die ersten Blitze. In der Hoffnung, dass wir vom Unwetter verschont bleiben, kriechen wir in unser Zelt. Kurz vor Mitternacht wird mir langsam mulmig. Blitze zucken im Sekundentakt auf uns herab, erleuchten den noch immer langsam dahin fließenden Fluss. Das Krachen des Donners will kein Ende nehmen. Aus allen Richtungen gleichzeitig! Mir reicht es. Ich muss wissen welchen Weg wir im Notfall hinauf auf den Lehmhügel nehmen können. Mit Melwin schlage ich mit unseren Macheten einen Weg bis zur Lehmwand. Ernüchterung! Es ist einfach unmöglich unser Gepäck oder das Boot die senkrechte Wand im Ernstfall hinaufzuschleppen. Wir würden es vielleicht schaffen. Was aber wird aus unserer Ausrüstung, dem Boot, dem Essen? Das Wetter nimmt noch an Heftigkeit zu. Weltuntergangsstimmung! Über uns in den Bergen müssen wahre Wassermassen an Regen niedergehen. Bis 3:00 Uhr bekomm ich kein Auge zu. Mit der Taschenlampe in der Hand sitze ich im Zelt und beobachte den Fluss, "renne" raus und rein. Inzwischen kann ich sogar Ilka davon überzeugen, mit Widerwillen endlich unsere Sachen in wasserdichten Packsäcken zu verstauen. Wahrscheinlich will sie nur ihre Ruhe haben. Manchmal finde ich ihren Gleichmut und ihre "es wird alles gut"-Mentalität zum Auswachsen. (Aber es ist doch auch am Ende nichts passiert! ...das war die Ilka)
Eine Stunde vor der Morgendämmerung setzt auch bei uns der Regen ein. Der Fluss ist noch nicht gestiegen. Blitze und Donner haben an Kraft nicht verloren. Plötzlich ändert sich das Geräusch des fließenden Wassers. Das Plätschern der weiter unten liegenden kleinen Stromschnelle ist nicht mehr zu hören. Nur das leise Rieseln des Sandes gräbt sich ins Gehirn. Der Fluss beginnt ganz langsam zu steigen! Trotz Regen und Donnerschlag laufe ich bis 6:00 Uhr morgens am Ufer auf und ab. Tapir und Jaguarspuren sind jetzt uninteressant. Meine Lampe brauche ich nicht. Blitze im Sekundentakt erleuchten den Urwald und den gespenstischen Strom in divusem Licht. Langsam, nur zögerlich wird es hell. Todmüde schlafe ich bis 8:30 Uhr. Es regnet noch immer leicht. Das Gewitter grollt nur noch in der Ferne. Der Fluss ist weiter gestiegen, jedoch wesentlich langsamer als befürchtet. Die eigentliche Welle wird vermutlich erst gegen Nachmittag bei uns sein. Aus unserer großen Plane bauen wir uns einen Unterstand. An Feuermachen ist bei der triefenden Nässe nicht zu denken. Wir füllen eine zur Hälfte im Sand steckende Blechbüchse mit Benzin. Als Docht dient verdrehtes Klopapier. Urwaldsurvival in Perfektion.
Kurz vor Mittag sind wir startklar. Erstes Treibholz im Fluss ist ein sicheres Zeichen für das Steigen des Wasserpegels. Wir kommen durch die stärkere Strömung ca. dreimal so schnell voran als gestern. Nach nur zwei Stunden rasanter Fahrt erreichen wir das erste Dorf der Tsimane. Bolzon heißt es. Eine Lehmtreppe führt die Uferböschung hinauf. Dutzende Kinder in zerschlissener Kleidung warten am oberen Rand. Eine ca. Elfjährige hat schon wieder einen dicken Bauch. Entweder ist es Leishmania oder sie ist schwanger. Ein paar ältere Indias kommen heran. Einer spricht spanisch. Melwin erklärt unser Kommen? Unsere Medikamente werden dringend benötigt, aber es ist eben doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Arzt müsste man sein oder Millionär!
Zum Abschied fragen wir nach der Distanz bis zum nächsten Dorf. Die Angaben lassen schmunzeln. Hier wird nicht in Kilometern oder wie in Bolivien üblich in Stunden gemessen sondern in Flusskurven. Sechs an der Zahl sollen es bis zum nächsten Weiler sein.
Nachmittags erreichen wir zwei einzeln am Fluss stehende Hütten. Nur eine Familie lebt hier. Die Frau und die sechs Kinder sprechen ausschließlich Tsimane. Der Platz um die Hütten ist aufgeräumt und sehr sauber. Wir dürfen bleiben tauschen ein paar von unseren Lebensmitteln, geben den Kindern etwas von unserem Milchpulver. Gut, dass wir einen wassersicheren Nachtplatz gefunden haben. Der Rio ist in den letzten zwei Stunden um zwei Meter angestiegen. Dicke Baumstämme treiben im Wasser. Der "Senor de la casa" holt seinen Bogen hervor und die riesigen Pfeile, sogar bei dieser trüben Lehmbrühe erlegt er damit tatsächlich Fische. Hungern muss niemand, Reis, Bananen und Yucca werden angebaut. Außerdem verkauft die Familie, wie fast alle am Flusslauf, Material für Palmendächer. Händler tauschen es gegen Lebensmittel. Sie kommen unregelmäßig den Fluss herauf. Die Aufkaufpreise sind skandalös für den Arbeitsaufwand. Erst werden tief im Wald stundenlang die ungefähr 50 cm langen Wedel der Jatata-Palme geschnitten. Für einen Pa?o, ein jeweils 3 m langes Stück Palmendach, werden mind. 700 einzelne Palmenblätter nebeneinander auf eine Bambusleiste "geknotet". Dafür erhalten sie dann jeweils 4-5 Bolivianos(50 Cent)!
Fast zehn Stunden haben wir am Stück geschlafen. Ein gackerndes Huhn weckt uns lautstark aus dem Schlaf.
Der Fluss unter uns liegt im dampfenden Urwaldnebel. Der Tag erwacht. Die Kinder der Familie sind heute nicht mehr so ängstlich wie gestern. Neugierig bestaunen sie unser Boot. Später zeigen sie uns ihre vier Findelkinder, aus dem Nest gefallene junge Aras. Wir schleppen unser Gepäck begleitet von Schwärmen von Sandfliegen begleit zum Ufer. Verladen alles gewissenhaft ins Boot. Fertig beladen müssen wir für die Indios wie von einem anderen Stern erscheinen. Erstes Dorf heute ist San Luis Chico. Leider kommen wir nicht bis zur Ansiedlung. Die Gemeinschaft lebt tief im Urwald. Der Weg zu ihnen wird uns von einem überfluteten Stück Wald versperrt. Ein Balsafloß dient als Transportmittel, liegt aber auf der andern Wasserseite. Enttäuscht fahren wir bis San Bernardo weiter. Die Hütten erstrecken sich auf zwei Flusskilometer. Beim ersten Einbaum halten wir an. Auch hier entdecken uns die Kinder als erstes. Ängstlich rennen sie zu ihrem Vater. Der kommt mit Frau und Dschungelschwein zum Ufer. Das gleiche Prozedere. Melwin erklärt unser Kommen. Ilka notiert, wie viel Leute zur Gemeinschaft gehören und welche Medikamente wir verteilen und schreibt auf Spanisch eine Liste, welche Medikamente gegen welche Beschwerden sind. Ein einziger kann lesen. Das hatten wir vorher nicht bedacht. Der Indigena begreift anfangs nicht, dass wir keine Gegenleistung erwarten. Der Einfachheit halber erklärt Melwin das alles vom Deutschen Staat finanziert wird. Es ist unmöglich zu erklären, wie wir unser Geld für den Verein Projekt Regenzeit e.V. sammeln. Es würde keiner begreifen. Wir lassen grundsätzlich nur Medikamente da, die die Leute schon kennen. Am besten wäre aber jede Tablette hätte eine andere Farbe. Wir hätten in Rurre kleine bunte Bildchen kopieren sollen. Beim nächsten mal sind wir schlauer. Schwierig auch, dass, wenn überhaupt, nur die Männer spanisch sprechen und die sind erstmal auf dem Feld oder zur Jagd. Auf die Frage, wann sie wiederkommen, bekommt man dann schon mal in Zeichensprache bedeutet: ? wenn die Sonne hinter dieser oder jener Palme steht.
Am meisten fehlt es den Kindern an Vitaminen, man erkennt es deutlich an den blonden oder weißen Haarsträhnen. Uns unverständlich. Auf den Dschungelfeldern gibt es genug Bananen oder Papayas. Viele der Früchte verfaulen auf dem Urwaldboden.
Wir schaffen es, alle Siedlungen anzulaufen. Melwin achtet darauf, dass immer so viel wie möglich Bewohner versammelt werden, damit keine Familie die Medizin als Privatbesitz betrachtet. Eine Oma macht uns klar, dass sie Zahnschmerzen hat. Die Stelle ist schnell gefunden, hat sie doch nur noch einen einzigen Zahn im Mund. Bei den meisten ist die Haut mit dickem Schorf überzogen.
Nächtigen wollen wir bei den Tsimane in Bisal. Nur eine alte Oma ist da. Der Rest ist unterwegs. Mit Händen und Füssen erklärt sie uns, dass wenn die Sonne im hohen Baum steht alle von der Jagd zurück sein werden. Eine Gruppe ist fischen. Die andere im Urwald auf der Pirsch nach Dschungelschweinen. Tatsächlich kommt die Fischergruppe bei Einbruch der Dunkelheit ins Lager zurück. Im Boot liegt ein 150 Zentimeter langer Katzenfisch. Wir tauschen ein Kilo Reis gegen ein Kilo Fisch ein und frittieren das ganze in Öl. Lecker! Unsere Zelte dürfen wir im Bananenfeld aufstellen. Nachts geht im Norden ein schweres Gewitter nieder. Der Wind bläst feuchten Sandstaub über den Fluss. Mond und Sterne verschwinden im diffusen Lichtschein. Wie am Abend verabredet treffen wir uns am Morgen mit den drei Familien im Dorf. Alle sitzen wieder um den einzigen Tisch. Die Gemeinschaft macht den ärmlichsten und kümmerlichsten Eindruck auf uns. In allen Ecken liegt irgendwelcher Unrat. Die Toilette ist dort wo man gerade steht. Plastikmüll, leere Alkoholflaschen in allen Ecken. Die armseligen, niedrigen Schutzdächer sind krumm und schief, kurz vor dem Verfall. Eine Oma sitzt umgeben von Moskitohorden an der Feuerstelle und zerlegt eine frisch gefangene Schildkröte. Mir dreht sich der Magen um. Das Fleisch liegt auf dem dreckigen Boden. Auf dem Tisch liegen Scheiben von Tapirfleisch, bevölkert von Fliegen und Bienen. Eine Frau trägt ein aus trüben Augen blickendes Baby auf dem Arm. Die Arme der Mutter sind wieder vollständig von dickem Schorf überzogen, an einigen Stellen blutig aufgekratzt. Bevor wir unsere Medikamente ausbreiten können, befreien wir den wackeligen Holztisch vom Unrat. Das ist nicht ganz einfach, da ältere Fleischstücke schon fest gebacken sind. Eines der Kinder hat schweren Durchfall. Wir können es riechen und auch sehen. Immerhin hat einer der Männer mal ne Art DRK-Kurs belegt und kennt die Medikamente.
Wir verabschieden uns, wollen weiter fahren. Einer aus der Männergruppe hält uns noch zurück, zeigt mit glasigen Augen auf seinen vielleicht sechsjährigen Sohn. Der kauert im Dreck hinter einem schmutzig löchrigen Moskitonetz am hintersten Ende der Hütte. Wir hatten ihn nicht bemerkt. Schmerz spiegelt sich in seinen ängstlichen Augen wieder. Er hat rote und geweitete, geschwollene Nasenlöscher. Ein "Ach du Scheiße!" entfährt uns. Wir hatten es bei unserem Besuch vor Wochen im Hospital von San Buena nicht glauben wollen. Der Kleine hat einen Ulzera, eindeutig Zeichen der gefährlich Laishmaniose Krankheit (auch weise Lepra genannt). Wir reden auf den Vater ein. Der Junge muss ins Krankenhaus gebracht werden, hier draußen stirbt er einen qualvollen Tod. Wir schreiben ihm auf eine Karte die Namen von Tim und Jaqueline. Die beiden Deutschen arbeiten im Hospital von San Buenventura. Die Behandlung für Kinder ist kostenfrei und auch absolut erfolgreich möglich! In unserem überladenen Boot können wir den Jungen nicht mitnehmen. Es gibt tatsächlich an dem ganzen blöden Fluss nicht einen Sanitätsposten! Mit dem Einbaum des Vaters würden sie drei beschwerliche Tage brauchen. Aber die Händlerboote oder die "Parkranger"?Leider glauben wir nicht wirklich daran, dass der Vater seinen Sohn ins Hospital bringen wird.
Schweren Herzens stoßen wir ab. Die letzten Stunden im eigenen Boot liegen vor uns. Wir nehmen uns Zeit. Halten öfters am Ufer um zu angeln. Aus den geschätzten vier Stunden bis Asuncion werden sechs. Der Fluss bietet nicht viel Neues.
In Asuncion werden wir herzlich aufgenommen. Zur Begrüßung gibt e seine Chicha, leckeres Erfrischungsgetränk aus Mais. Nach einer Stunde haben wir es geschafft unsere Ausrüstung die 30 Meter hohe fast senkrechte Lehmböschung nach oben zu schleppen. Als Lohn gibt es oben einen herrlichen Platz für unser Zelt direkt unter einem Pampelmusenbaum. Am meisten genießen wir das klare Wasser. Über ein Leitungssystem wird das Dorf ständig mit frischem Wasser aus den Bergen versorgt. Zum ersten mal nicht das lehmige Flusswasser schlürfen. Möglich wurden diese Investitionen des Dorfes durch ein Tourismusprojekt.
Am nächsten Mittag nimmt uns ein Motorboot mit nach Rurre. Wir sind gespannt auf die Stromschnellen der Balaschlucht und den Canon del Suse. Naja, da ist dann schon der ein oder andere Mörderstrudel?
Unterwegs überholt uns ein Boot mit "Rangern" sie haben eine schwerverletzte junge Frau an Bord. Ein Baum ist auf sie gefallen. Das Kind in Ihrem Arm war sofort tot. Der Arm ist zertrümmert man wird ihn ihr später nur noch abnehmen können. Sie stammt von weit oben am Quiquibey. Das das "Rangerboot" in der Nähe war, war reiner Zufall! Ansonsten?