Angst
Es ist schon verwirrend, dass ich dem Gefühl, den Urgewalten der Natur im Dschungel machtlos ausgeliefert zu sein, bis heute nicht viel entgegen zu setzten habe. Alles hat seinen Ursprung 2005: 19 Tage waren wir im unerforschten Quellgebiet des Madidi unterwegs. Wie so oft campierten wir in Flussnähe, vier bis fünf Meter über dem Wasserspiegel. Bis uns morgens um 6:00 Uhr eine Flutwelle nahezu wegspülte. Angekündigt durch ohrenbetäubenden Lärm, verursacht durch Schlammmassen, Geröll und Bäume. Am Ende blieben uns zwei Quadratmeter unter einem Urwaldriesen, eingeschlossen von den Wassermassen.
Nun sind wir 2013 wieder im Madidi unterwegs. Unsere Karten, bestehend aus vier A4 Zetteln mit einem Ausdruck von Google Earth von 1979. Der Fluss windet sich in riesigen Schleifen bis zur Mündung in den Rio Beni. Die alten Karten dürften wohl rein gar nichts mit dem heutigen Verlauf gemeinsam haben. Ca. 6oo geschätzte Kilometer liegen vor uns. Keiner von uns weiß wirklich wie lange wir unterwegs sein werden. Doch es ist nicht die nicht zu bestimmende Tourlänge, nein es ist einfach nur der Fluss, welcher vor allem mir eine Menge Respekt einflößt. Jedes entfernte Gewitter in den Bergen könnte ihn binnen Stunden in ein rasendes Wildwasserinferno verwandeln. Es ist kaum möglich sich vor den Fluten ins Hinterland zu retten. Der Urwald ist oft einfach nicht zu durchdringen. Die ersten Nächte sind besonders hart. Ich finde kaum Schlaf? man hört trotz der Urwaldgeräusche das Wasser über den Sand kratzen. Bei jeder Veränderung des Geräusches stellen sich mir die Nackenhaare auf. Nochmal zur Erinnerung: niemand hat den Fluss bisher nur mit dem Paddelboot befahren, auch Melwin kennt nur kleine Teilstrecken. Handys oder irgendwelche anderen Kommunikationsmöglichkeiten gibt es nicht. Wir sind abseits von Allem. Ilka ist sehr mittfühlend. Nach der dritten Nacht geht es mir besser. Ich schlafe zum ersten Mal mehr als fünf Stunden am Stück. Coca, Bico und Ceibo helfen wie immer über schlaflose Nächte.
... erst mal hinkommen!
Die letzten 2 Nächte vor der Abfahrt in Rurre können wir auch nicht schlafen? Rurre bereitet sich aufs Dorffest vor. An der Costanera (Uferpromenade) haben bisher nur 13 „Trinkhallen“ ihre Plastikplanen über wackelige Bambuskonstruktionen aufgeschlagen. Was definitiv als erstes angeschlossen wird sind immense Boxentürme für Musikartiges aus der Konserve und Liveauftritte. Zelt neben Zelt und alle müssen lauter sein als der andere und das gleichzeitig. Oropax versagen den Dienst und es stehen noch längst nicht alle Trinkhallen. Weder Ordnungsamt noch ehrbare Bürger gebieten der Kakophonie bis in den Morgen Einhalt. Wenn wir also morgen starten verpassen wir die Fiesta und auch die Wasserbomben- und Alkoholschlachten des Karneval gleich mit. ... so lange stehen auch die Trinkhallen?
Melwin steht tatsächlich noch vor 6.00 Uhr auf der Matte und feixt in sich hinein, weil die superpünktlichen Deutschen noch nicht fertig sind. Er hat am Ortsrand, fern von der Promenade, eindeutig mehr geschlafen als wir! Unser Transportmittel, ein Toyota Jeep Baujahr 1974, ist knallrot und frisch gewaschen. Außen - der Innenraum, speziell das Armaturenbrett ist recht karg gestaltet. Während ich noch das bestellte Brot hole, organisieren die Männer die Überfahrt mit der Pontonfähre. Gegen die starke Strömung des Beni schiebt sich der Ponton erst mühsam flussaufwärts - vorbei an allen Bierzelten. Melwin und Torte werden von einigen der bierseligen Hallodris sofort erkannt. Fröhlich schwankender Jubel verabschiedet uns. Bereits am anderen Ufer scheint die steile Böschung für unseren Jeep unüberwindbar. Hatte ich schon erwähnt, dass der Allradantrieb ausgefallen war? Wird eh über bewertet! Bloß wegen 120 km Offroad zur Regenzeit bis Ixiamas mit ein paar Flussquerungen und dann nochmal 70 km auf einer zur Regenzeit so gut wie nie befahrbaren Piste? Um ehrlich zu sein haben wir gar keine Alternative. Wegen der Fiesta war es schwer genug überhaupt Leute zu finden, die sich ein derartiges kulturelles Highlight entgehen lassen wollten. Die meisten haben noch nicht mal einen Hehl draus gemacht, dass sie einfach Saufen wollen.
Ich darf vorn neben dem Chef sitzen. Die Männers nehmen hinten Platz. Melvin begleitet uns ja schon seit Jahren und freut sich darauf, den Madidi endlich ganz kennen zu lernen. Martin war mit uns schon mal am Oberlauf des Madidi und wird uns gemeinsam mit Chino helfen, unsere Ausrüstung bis zum Fluss zu schaffen. Die Sonne strahlt, die Straße staubt, die Jungs rascheln vergnügt mit ihren Cocatüten und nach ? h Fahrt liegen Fahrer und Berater Schraubschlüssel schwingend zum ersten Mal unter der Karosse. Also, geradeaus geht`s schnell aber bei der kleinsten Neigung geht?s nur noch im ersten Gang und in Schrittgeschwindigkeit vorwärts. Die anderen Gänge gehen gar nicht erst rein. Die Kupplung weigert sich zu kooperieren. Aber der Fahrer überzeugt durch echtes Können - wir sind wieder „on the Road“. Klar, dass die verlorene Zeit aufgeholt werden muss. Ab und an drischt es die Jungs förmlich von der Rückbank bzw. knallen sie mit dem Schädel an die Kabinendecke. Ich erfreue mich derweil am bizarren Muster der Frontscheibe. Sie ist von einem filigranen Netz größerer und kleinerer Risse überzogen. Die ganze Zeit muss ich an die blöde Radiowerbung von Carglas denken, an die mahnende Stimme des Scheibendoktors. Nichts wird passieren, gar nichts!!!
Wir brettern bis Ixiamas durch, bis hierher war Kindergarten. Idealerweise könnten wir von hieraus noch 70 km Richtung Madidi fahren. Wir sind optimistisch. Jeder gefahrene Kilometer ist einer weniger zum Schleppen. Nun kommen sie doch noch die Schlammlöcher, Abbrüche und wegversperrenden Baumleichen. Aber es ist verglichen mit anderen Fahrten harmlos. Wir können z.B. schon mal nicht die Andenabhänge runter stürzen. Beim Versuch das Auto zwischen zwei quer liegenden Baumstämmen hindurch zu manövrieren, bricht das Hinterteil aus und das rechte Heck hängt auf einem der Stämme. Mit einer großen Axt rückt Melwin dem Baumstamm zu Leibe und manövriert gefährlich nah am Heck. Aber das bleibt der einzige Lackschaden. Noch besser, gegen 18.00 Uhr stehen wir tatsächlich am Rio Candelaria. Weiter kann man nicht kommen. Von hier sind es nur noch 5 Stunden Fußmarsch? angeblich. Hier wollte der Fahrer eigentlich warten bis Martin und Chino zurückkommen, nachdem sie uns beim Ausrüstungstransport geholfen haben. Hier wollten wir übernachten und am nächsten Morgen zu Fuß aufbrechen. Aber da natürlich auch die drei zur Fiesta nach Rurre wollen, wurde erwogen doch lieber gleich noch aufzubrechen und die paar Stunden nachts zu laufen. Dann wären sie am morgen schon wieder am Auto. Nicht nur einmal werden Torte und ich uns in den nächsten Stunden mit der Hoffnung trösten, dass wir bei unserer Ankunft froh sein werden über diesen nächtlichen Gewaltmarsch. Glücklicher weise hatte der Fahrer auf einmal Angst, allein im Auto mitten im Dschungel zu warten und bot sich an uns zu begleiten. Glück für uns, so verteilte sich das Gewicht auf mehrere Schultern. Der Fahrer wird seinen Entschluss noch bereuen. Immerhin saß er schon 12 h hinter dem Steuer. 5 Rücken, 5 Rucksäcke, ca. 140 Kilo. Allein das Boot wiegt 32 Kilo. 19.00 Uhr ist alles verpackt und verteilt. Noch ist es nicht ganz dunkel? nach 20 Gehminuten findet erst mal eine halbstündige Coca-Pause statt. Jeder muss sich einen Bolo (Ball aus Cocablättern) bauen, in die Backe stopfen und eine starke Casinozigarette in den Mundwinkel klemmen. Nun ist es wirklich stockdunkel. Hatte ich schon erwähnt, dass es nur drei Taschenlampen gibt? Dichtes Blätterdach, ein verschlungener mitunter zugewachsener Urwaldpfad, Wurzelwerk, Fallstricke aus Schlingpflanzen, schlüpfrige Baumstämme zum Balancieren über Wassergräben, Schlamm - egal, die nächsten 1,5 Stunden rammeln wir in einem Affenzahn durch. Wir haben ja wenigstens unsere Stirnlampen. Mein Flehen nach einer Pause wird von allen als Erlösung empfunden. Obwohl die Nacht kühler ist, sind alle durchgeschwitzt und klitschnass und keuchen. Auch unser Fahrer plappert längst nicht mehr. Nach fast einer Stunde Pause quälen wir uns wieder hoch. Wir beschließen einen Stundenrhythmus. Kann eine Stunde sich ziehen!!! Das Tempo der Bolivianer ist Wahnsinn, dran bleiben ist schwer. Vor allem an den Balancierstellen brauch ich viel mehr Zeit. Meine Beine wackeln jedes Mal wie Pudding. Zum Glück reicht Torte mir immer wieder das Paddel zum Fixieren. Dann haben sie plötzlich zwei Fußspuren entdeckt und bleiben immer wieder stehen und ?Rätselraten?. Ist mir doch sch?egal, wer hier noch so bekloppt durch den Urwald latscht! Stehen bleiben mit dem schweren Rucksack geht gar nicht. Aber Rucksack absetzen bedeutet auch, dass man ihn später mühsam vom Boden wieder hochhieven muss. Warum müssen wir hier mitten in der Nacht rumstolpern? Ach ja, am nächsten Tag werden wir ja froh sein?. Die fünf Stunden sind längst um. Nach jeweils einer halben Stunde werden jetzt erschöpft die Rucksäcke abgeworfen. Am schlimmsten sind Kriechstellen, wenn man sich aus dem Vierfüßergang wieder auf zwei Beine hoch quälen muss. Dann verlieren wir den Weg - willkommene Zwangspause. Der Fahrer kauert sich hin und will plötzlich einfach im Dunkeln sitzen bleiben. Er schnarcht tatsächlich nach ein paar Minuten! Der arme Kerl. Nach fast 8 Stunden stehen wir dann endlich alle am Ziel. Man hört den Madidi rauschen. Und Torsten hatte recht, jetzt bin ich froh, dass wir es schon hinter uns haben! Aber noch froher bin ich, dass ICH jetzt nicht wieder zum Auto zurücklaufen muss!
Wir lassen uns auf ein Holzpodest fallen. Die Nationalparkranger haben hier eine einfache Holzhütte, ein Posten der selten besetzt ist. Da können wir unser Zelt rein stellen. Die drei wollen wirklich gleich wieder zurück laufen. Wir überreden sie, wenigstens bis zur Morgendämmerung zu warten ? sie haben ja keine Taschenlampen. Der Chauffeur schnarcht bereits wieder. Martin und Chino gönnen sich einen Schluck von 96%igem Ceibo und kauen Coca. Essen wollen sie erst nix. Als sie gegen 6.00 Uhr los marschieren, sind wir längst umgefallen. Heute und die nächsten Wochen müssen wir keinen Meter weit gehen, nur paddeln ? was für ein beruhigendes Gefühl!!
... der Morgen danach
Geweckt werden wir durch das durchdringende Summen hunderter Bienen. Dutzende schwirren zwischen Außen und Innenzelt hin und her. Wenn man das kurz nachdem Aufwachen hört, kann man sich sicher sein, dass einem alles andere als ein ruhiger Morgen bevor steht. Es sind keine Killerbienen, aber sie sind überall. Ein zu schnell angelegter Arm, ein unbedacht gebeugtes Knie, Hosenbeine oder Ärmel als Einflugschneise. Klar, wir haben in der Nacht unsere vor Schweiß triefenden Klamotten und Rucksäcke einfach fallen lassen oder über das Zelt gehangen. Das Salz hat unzählige Gäste angelockt. Da hilft nur, alles in eine weit entfernte Ecke befördern und sich selbst erst mal baden. Danach wird der Schweiß aus allen Kleidungstücken gespült. Die Rucksäcke kommen quasi als Köder an einen weit entfernten, sonnigen Platz und gegen Mittag können wir tatsächlich fast entspannt frühstücken. Fast - denn wir bewegen uns alle, auch Melwin, wie eine Rentner-Gang. Ob unsere drei Wanderfreunde wohl inzwischen den Jeep erreicht haben? Ab jetzt sind wir auf unbestimmte Zeit nur noch zu dritt.
So langsam realisieren wir auch, dass wir's wirklich geschafft haben. Wir sind samt Boot am Madidi! Rotbraun schlängelt sich der Fluss durch die letzten Ausläufer der Anden, Hügelketten überzogen mit verfilztem Bergurwald. Gegenüber auf einer weiten Sandbank spaziert tatsächlich in diesem Moment ein Capibara (Wasserschwein). Blau-Gelbe-Aras krakeelen in einem Mapachobaum. Etwas unterhalb, gegenüber von unserem Schlafplatz, mündet ein kleinerer Fluss ein. Sein Wasser ist fast klar trotz Regenzeit. Wir folgen dem Flusslauf aufwärts, erst mit Hilfe unserer zwei kleinen Packraftboote, später können wir ihn zu Fuß queren. Wir suchen eine passende Angelstelle. Ein Londra (Riesenotter), der direkt neben unserem Gummiboot auftaucht, erschrickt uns fast zu Tode. Ungerührt schwimmt und taucht er weiter flussabwärts. Ich lass mich zufrieden mit samt den Klamotten in die Strömung fallen. Stundenlang könnte ich so liegen. Das Wasser ist nicht zu kalt und im Wasser gibt e keine Mariguis (kleine fiese Sandfliegen). Dann erleben wir ein Schauspiel, von dem wir bisher nur in der Trockenzeit gehört haben. Wir sehen tatsächlich die Fische vom Ufer aus. Kleinere Gruppen recht großer Fische flitzen durchs Wasser. Wir werfen die Köder einfach in der Mitte und schon hängt ein Baku am Haken. Erst Torte, dann Melwin - da will man natürlich nicht nachstehen. Sobald einer angebissen hat, verkralle ich mich in der Angelsehne, werfe sie mir über die Schulter und renn wie verrückt landeinwärts. Sieht vollkommen albern aus, aber ist nicht so anstrengend. Jeder von uns hat tatsächlich einen prächtigen Baku am Haken. Wir wählen den Besten aus und lassen die anderen frei. Einer reicht für die nächsten zwei Tage. Zurück zum Campamento lassen wir uns mit den Booten einfach treiben. Morgen gehts endlich los!
Pack Wahn
Drei Menschlein, kiloweise Ausrüstung und Essen und ein Boot. Wir wollen zu dritt in unserem großen Schlauchkanadier Typ Otter fahren. Im Kanadier sitzt es sich einfach besser, er liegt besser im Wasser und zu dritt in einem Boot kostet weniger Kraft. Die neuen Flicken über dem Mäusefraß halten - bis jetzt - allerdings sind die Luftkammern im Boden nicht mehr intakt. Egal, letztes Jahr ging`s auch ohne Luft im Boden - ist ja kein Kindergeburtstag hier! Die Nacht hat es durchgeregnet und stundenlang gewittert. Der Madidi ist heute Morgen noch etwas brauner aber nicht gestiegen. Wir schwitzen bereits nach dem ersten Gang zum Fluss. Das Einsortieren des ganzen Krams ist eine Wissenschaft und beim ersten Mal eine elende Fummelei. Alles muss dreifach verzurrt sein, damit beim Umkippen nichts verloren geht. Dabei umschwirren einen Wolken von Sandfliegen. Die Stiche sind das eine, die Wolkendichte das andere. Man ist völlig genervt. Dazu fängt`s auch noch an zu regnen! Ich halte lieber Abstand und mache Bilder. Noch bin ich skeptisch, dass überhaupt alles in ein Boot passt. Aber das behalte ich mal lieber für mich. Fast Punkt 12.00 Uhr stoßen wir uns vom Ufer ab. Vamonos! Erst mal fünf Minuten paddeln, dann durchatmen. Auf dem Fluss umschwärmen uns etwas weniger Mariguis - was nun zum Glück fehlt ist eine Backe voller Coca, eine Casino und ein kleiner Schluck Ceibo (der 96%ige). Die ersten Tropfen gehören natürlich Pacha Mama, der Mutter Erde. Auf eine gute Reise!
Auf den ersten Kilometern gibt's noch die ein oder andere Schwallstrecke zu überwinden, aber alles harmlos. Don Pedro (Petrus) meint es heute nicht gut mit uns. Der Himmel öffnet seine Schleusen. Poncho Alarm! Unter den Ponchos schwitzt man zwar sehr, aber sie schützen vorm Auskühlen solange uns ein frischer Wind den Regen ins Gesicht weht. Außerdem regnet`s so nicht in die Gummistiefel. Dafür müssen wir bald zum ersten Mal schöpfen. Wir durchpaddeln regelrechte Baumfriedhöfe. Abgestorbene Äste und Wurzelballen großer umgestürzter Bäume ragen rechts und links von uns aus den Wellen. Torte steuert im Slalom zwischendurch. La Princessa thront wie gewohnt in der Mitte auf dem Gepäckberg und Melwin ist das Bugschwein. Der Madidi zieht große Schleifen. In den Innenkurven breiten sich teils ewig lange Sandbänke aus. Gerade ist der Regen in leichtes Nieseln übergegangen. Melwin starrt seit geraumer Zeit auf die Sandbank am linken Ufer. Immer wieder kneift er die Augen zusammen. „Tigre!“ - fast gleichzeitig platzen Torsten und Melwin damit heraus. „Kamera! Kamera!“
Wie angestochen wühle ich in dem viel zu engen kleinen Packsack, zerre rabiat die Kamera heraus, verheddere mich mit den Gurten. Anschalten - Knopf finden! Objektivdeckel abreißen! ERROR!! Die ganze Zeit lag der Jaguar tief geduckt in einer Bodenwelle. Gesehen hatten wir ihn schon viel früher (deshalb hatte Melwin so gestiert). Wir hatten aber gedacht, es wäre ein Baumstamm. Als wir etwa auf gleicher Höhe sind, schreckt er auf und springt davon. Das ist dann der Teil, den ich auch wieder sehe - Erster Tag und gleich ein (erster?) Jaguar. Wir sind hin und weg! Wenn da nicht der Kamerafehler wäre. Beim Versuch, der Sache auf den Grund zu gehen, zeigt Torsten das Display schließlich an, dass er gerade sämtliche Bilder vom Chip gelöscht hat. Na wenn das kein Grund zum Unausgeglichensein ist? Alle Bilder weg und die Knipse will jetzt gar nicht mehr. Vorsichtig schlage ich vor, dass doch der Chip kaputt sein könnte. Versuch macht kluch!? Mit einem neuen Chip geht die Kamera tatsächlich wieder und es wird sich hoffentlich in Deutschland irgendjemand finden, der auch die gelöschten Bilder wieder her zaubern kann! Der erste Paddeltag wird der einzige wirkliche Regentag bleiben. Gegen 18.00 Uhr schlagen wir unser Camp auf einer Sandbank auf. Torsten ist skeptisch (siehe Einführung). Ich will nur endlich raus aus den nassen Klamotten. Unsere Hände sehen aus wie nach 12 Stunden Badewanne. Wenigstens nieselt es nun nur noch. Stämme für die große Plane suchen, Plane spannen, Boot ausräumen, Zeltaufbau, Boot putzen und zum Schlafplatz schleppen, trockene Sachen anziehen, waschen fällt wegen Sandfliegen und Kälte aus, Essen kochen. Innerhalb einer halben Stunde, gegen 19.30 Uhr, ist es stockdunkel. Gerade beim Essen erfolgt die Moskitogroßoffensive. Melwin prophezeit, dass wir um diese Zeit weiter flussab schon in unseren Zelten hocken werden, weil es noch viel, viel mehr Moskitos gäbe. Na Klasse! Ein kleiner Trost- nach einer halben Stunde Rushhour hat der überwiegende Teil der Mücken wieder Feierabend. Ich kann Wetterhosen und Windjacke wieder ausziehen. Dann der gespannte Blick auf das GPS. Wie viel Kilometer haben wir geschafft? Torsten hat auf den 4 Google-Earth-Ausdrucken die Mündung in den Beni, mögliche Dörfer am Unterlauf des Madidi (oder das, was er dafür gehalten hat) und erkennbare Einmündungen anderer Flüsse markiert. Wir haben also ein paar Fixpunkte. In den letzten sechs Stunden haben wir uns der Mündung um ganze 15 Kilometer genähert. Luftlinie halt. Eigentlich ganz gut. Hoch gerechnet auf die anstehenden 225 km bis zur Mündung, liegen also ca. 14 Paddeltage (ohne Ruhetage) vor uns. Wir haben mit Cachi vereinbart, dass er erst, wenn er nach vier Wochen nix von uns gehört hat, einen Suchtrupp losschickt. Die erste sichere Chance auf ein Funkgerät haben wir an der Mündung. Vier Tage sind wir jetzt unterwegs - also ist alles bestens! Zum Abendritual gehört auch eine Tasse mit Ceibo und Limettengemisch. Salud und Prost!
Es dauert eine Weile, bis wir den idealen Tagesrhythmus gefunden haben. Der richtet sich nach der Sonne - na klar und den Stoßzeiten der Insekten. Aufstehen ist im Morgengrauen gegen 6.00 Uhr. anziehen, rechte Hand Machete, linke Hand Klopapier - ausschwärmen. Um diese Zeit ist es für die Mariguis noch zu kühl? Geschäfte ohne zerstochenen Hintern sind schon mal ein Luxus. Wenn noch Zeit ist, Katzenwäsche im Fluss und dann versuchen wir in Ruhe einen Kaffee zu trinken. Zum Essen ist die Lage schon längst nicht mehr wirklich entspannt. Also fix abbauen und alles in die Packsäcke stopfen, denn so langsam werden auch die Bienen auf uns Aufmerksam - die gibts aber nicht auf jeder Sandbank, zum Glück! Das Beladen des Schlauchis erfordert dann schon Vollschutz. Chemie, am besten 100%DEET (ja das gibt es), oder Wärmestau durch Verschleierung. Torsten und Melwin haben da interessante Kreationen entwickelt. Alles fest zurren, abstoßen, weg paddeln und die letzten Bienen abschütteln. Nach ein bis zwei Kurven wird es ruhiger. Nur die Sandfliegen halten sich hartnäckig. Ihre Stiche hinterlassen immer einen kleinen dunkelbraunen Blutpunkt im Zentrum. Bald sind Hände, Gesicht und Hintern gesprenkelt. Das war am Rio Hondo oder Quiquibey anders. Da hatte man auf dem Boot Ruhe. Also Hemdkragen geschlossen halten, nochmal Repellente auftragen und dann gibts Frühstück: völlig zerbröselte Salzkekse mit Thunfisch und eine Scheibe Gurke, Reste vom Abendbrot oder bei Angelglück haben wir am Abend noch Reis und frittierten Fisch vorbereitet, anfangs hatten wir sogar noch Spiegeleier. Unser Brot überlebte das Feuchtbiotop Packsack gerade mal drei Tage. Lebensmittel haben wir noch genug, aber einfach keinen Nerv früh auf der Sandbank zu backen oder kochen.
Zufrieden sind wir trotzdem. Denn während wir uns treiben lassen und kauen, zieht der Dschungel an uns vorbei. Das Gebrüll der Maneche (Brüllaffen) dröhnt durch den Wald. Was für ein unglaublicher Lärm. Das Geschrei der kleinen gelben Totenkopfäffchen klingt eher wie das Gezwitscher von Vögeln. Oft sind sie gemeinsam mit Kapuzineraffen unterwegs. Für die Kamera sind sie viel zu schnell, also staunen und genießen. Lucachis sind etwas größer als Totenkopfäffchen, machen aber auch einen Heidenlärm und sind nur schwer zu entdecken. So richtig wackelt`s in den Bäumen, wenn die Klammeraffen auftauchen. Man hat manchmal das Gefühl, sie würden extra eine große Show abziehen. Vor allem die Halbstarken hangeln, springen und klammern was das Zeug hält. Am liebsten hängen sie Kopf unter am Schwanz und fressen mit vier Pfoten. Einmal überraschen wir eine komplette Brüllaffenfamilie, wie sie an der Uferböschung kauert und die mineralienhaltige Erde für ihre Verdauung frisst. Erst als wir längst vorbei getrieben sind, klettern sie über Lianen wieder hinauf in die Baumwipfel. Es ist genauso wie erhofft? ein unberührtes Paradies! Wolken blau-gelber oder rot-blauer Aras stieben immer wieder in die Luft. Am kräftigsten leuchten die Farben in der Nachmittags- oder Abendsonne.
Am zweiten Paddeltag ist es die zweite Sandbank. Sofort ist klar das Stück Holz ist wieder ein Jaguar. Erst mal nur gucken und leise ran treiben lassen. Der Jaguar liegt wieder flach in einer Sandkuhle. Jetzt hebt er den Kopf. Aufgeregt schieße ich ein paar Fotos. Wir sind mucksmäuschenstill und angespannt. Der Jaguar steht langsam auf und trottet ins Dickicht, nicht ohne sich nochmal umzudrehen. Wow! Kaum ist er verschwunden entlädt sich ein Jubelgeschrei aus allen drei Kehlen. Jetzt brauchen wir erst mal einen winzigen Schluck vom Hochprozentigen. Der Erste geht wieder an Pacha Mama. Das Leben ist einfach nur herrlich!
Mittags gibt's meistens nix. Als Überraschung hol ich manchmal aus den Tiefen meines Packsackes eine gute alte Minisalami. Wir teilen durch drei. Zerknautscht und etwas aufgeweicht ist sie für uns trotzdem ein Leckerbissen. Am Nachmittag steigt die Hitze immer spürbar an. Oft haben wir Glück und ein paar Wolken spenden Schatten und es weht ein Lüftchen. Bei Gegenwind haben wir sogar das Gefühl schneller voran zu kommen. Das Kilometer fressen kann schon zermürbend sein. Vor allem, wenn man das GPS tagsüber rausholt und merkt, dass man sich dem Ziel nicht nähert sondern sich entfernt. Zu Fuß könnte man so viel Stunden sparen (wenn der Urwald nicht wäre)? dann machen wir auf einmal wieder richtig Meter. Als wir zum ersten Mal die Tagesmarke von 20 Kilometer knacken, sind wir regelrecht euphorisch. Wir wissen jetzt, dass wir es schaffen können. Am späteren Nachmittag beginnt das Grummeln in der Ferne. Meist haben wir Glück. Das Gewitter zieht vorbei oder es trifft uns nur ein kurzer heftiger Schauer. Nur einmal hätte es uns beinahe erwischt. Gerade noch rechtzeitig, als das Gewitter schon fast über uns ist, finden wir endlich eine sichere Stelle zum Anlegen. Triefend stehen wir im Schlamm der Uferböschung, da schlägt der Blitz auf der anderen Uferseite ein. Puh, das war knapp! Fast eine Stunde zählen wir vergeblich ständig die Sekunden, in der Hoffnung, dass sich die Gewitter endlich entfernen. Um die Wartezeit zu überbrücken erzählen wir Melwin von den „Jahrhundertgewittern“ in Deutschland 2012, natürlich auch von den Blitztoten. San Pedro (Petrus) schießt Fotos sagt man hier, wenn es blitzt?
Ab 17.00 Uhr beginnt die Nachtplatzsuche. Laut GPS haben wir eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 7 km/h. Wenn wir also 7.30 Uhr aufs Wasser gehen, wären das bis zu acht wirkliche Paddelstunden. 8 x7 wären dann 56 Paddelkilometer pro Tag auf 20 km Luftlinie. Damit wäre der Madidi dann doch um einiges länger als gedacht. Am Ende ist es nicht schlimm, wenn wir erst nach 18.00 Uhr anlegen. Umso weniger Zeit haben die Mariguis uns zu piesacken. Kurz vor Sonnenuntergang, so gegen Sieben, gibt es eine insektenfreie Halbestunde. Manchmal gehen wir da sogar baden!!! - um mich danach in meine wind- und somit stichdichten Klamotten zu zwängen. Nach einer Viertelstunde steh ich im eigenen Saft - dafür stichfrei. Das abendliche Kochen und Essen ist definitiv einer der Tageshöhepunkte. Es gibt abwechselnd Reis oder Pasta mit einer Zwiebel, Knoblauchknolle und einer Kartoffel, dazu ab und an frischen Fisch, Thunfisch oder Frühstücksfleisch. In weiser Voraussicht hab ich aus Deutschland ein paar Tütensoßen mitgebracht, ansonsten tut`s der gute alte Brühwürfel. Je nach Zeitpunkt läuft man beim Essen wedelnd hin und her oder genießt im Sitzen. Nach 8-9 Paddelstunden auf dem Wasser genießen wir vorm Schlafengehen die kühlere Nachtluft und meist einen unglaublichen Sternenhimmel. Uns fallen bei Zeiten die Augen zu. Natürlich nicht, wenn am gegenüberliegenden Ufer gerade die glühenden Augen eines Jaguars im Strahl der Taschenlampe reflektieren. Gespannt beobachten wir, was passiert. Am nächsten Morgen gilt es wieder vor den Sandfliegen wach zu sein.
Begegnungen am Fluss oder: Man spricht Deutsch!
Nach vier Tagen legen wir einen ersten Ruhetag ein. Der Flecken heißt „Puerto Serimas“, ein Urwaldmarsch von 5 Tagen könnte uns von hier zur Straße zurück nach Ixiamas bringen. Die letzte Möglichkeit ... Kommt gar nicht in Frage! In einer Holzhütte auf einem von Sandfliegen verseuchten Stück Garten Eden wartet Santos auf seinen Kumpels. Der eine ist Einkaufen - seit ein paar Tagen. Der andere ist angeln. Auf Tortes Frage wann er wieder kommt meint Santos im Mai vielleicht. Hä? Er ist froh, über die Abwechslung und lädt uns zum Angelausflug an die nahegelegene Lagune ein. Ich habe derweil Putz und Flicktag. In mehr als vier Stunden versuche ich die Löcher in meiner Hose zu ?stopfen?. Was für ein Flickenwerk! Danach habe ich zwar keine einzige Hosentasche mehr, aber meine Oma wäre stolz auf mich? 16 Fische bringen die Jungs von einer Lagune mit zurück - alles Piranhas. Torte hat natürlich den Größten gefangen und ist stolz wie Bolle. Das Abendessen wird ein Fest. Was uns in den nächsten Tagen erwartet, wissen wir nicht. Siedlungen gibt's erst kurz vor der Mündung. Auch deshalb sehen wir so viele Tiere. Sie werden einfach nicht gejagt hier oben. Ganze Großfamilien von Capibaras (Wasserschweine) mit geradezu winzig anmutenden Jungtieren fressen am Ufer. Oftmals nehmen sie uns überhaupt nicht war. Schildkröten dagegen sind immer schneller als wir. Ab und an dösen Alligatoren in der Sonne. Einmal wollen wir gerade anlegen, als wir direkt neben uns ein wütendes Schnauben hören. Nur der Kopf des Kaimans guckt aus dem Wasser. Wir haben ihn einfach übersehen. Ein andermal überraschen wir einen Melero auf einer kleinen Sandbank. Den Puma sehen wir nur noch davon rennen. Tauchen aus dem Wasser die Köpfe einer Riesenotterfamilie auf, wissen wir, dass es hier viele Fische gibt. Dann sehen wir die ersten Holzflöße. Fette Baumstämme wurden mit stricken zu Flößen verbunden. Sie sind am Ufer verankert. Wenn der Wasserstand höher ist werden sie mit dem Boot geholt. Die Campamentos der Holzfäller (meist drei oder vier Leute) existieren nur in der Trockenzeit. Schweres Gerät gibt es nicht. Irgendwie sind wir ein bisschen enttäuscht, nun nicht mehr so wirklich in der Wildnis zu sein. Aber es wird noch Tage dauern, bis wir auf Menschen treffen. Seit Planung der Reise behauptet Melwin, dass am Madidi, kurz vor der Mündung des Undumo, eine Mennonitenfamilie leben soll. Er schwärmt von ihrem Käse. Dort müssen wir einen Ruhetag einlegen. Die Mennoniten stammen ursprünglich aus Norddeutschland/Holland. Sie sind eine evangelische Freikirche der Täuferbewegung. Wegen diverser Repressalien sind sie nach Russland ausgewandert. Im Zuge der Oktoberrevolution waren sie auch dort der Verfolgung ausgesetzt und wer Glück hatte, schaffte es nach Mittel- oder Südamerika. Sie leben meist isoliert nach strengen Glaubensvorschriften und sprechen ein ganz altes Plattdeutsch. Wir sind also gespannt. Heute ist der große Tag - laut GPS sind wir nahe an der Einmündung des Undumos. Zwei Wochen sind wir unterwegs. Es folgt Kurve um Kurve - Nichts! Wo ist das Haus von Don Mattheos? Plötzlich weicht der Urwald zurück. Am Hochufer erkennt man einen Streifen Pampa und darunter liegt ein Boot. Es ist „Campo Bravo“. Dann verschlägt es uns die Sprache: Man spricht tatsächlich Deutsch! Die Geschichte der Familie würde ein eigenes Buch füllen. Sie sind zwar keine Mennoniten, machen aber trotzdem guten Käse und haben auch eine Weltreise hinter sich. Seit 9 Jahren leben Tanja (43 Jahre, geboren in Bayern) und Mattheo (43 Jahre, ehemaliger GI) in fast völliger Abgeschiedenheit, mit ihren 13 Kindern. Außerdem leben Karla, die Lehrerin, und ihre Schwester hier. Wir werden mit einer Herzlichkeit aufgenommen! Am liebsten sollen wir gleich mehrere Tage bleiben. Auch sie sind streng gläubig aber nicht dogmatisch. Freiheit und Unabhängigkeit und Lust am Abenteuer haben Mattheo nach Bolivien mitten in den Urwald geführt. Das Leben besteht aus harter Arbeit. Jedes der Kinder muss seinen Beitrag leisten. Holz machen, Tiere füttern, das Feld bestellen, Ernten, Kakao sammeln im Wald, Wäsche waschen, Kochen, Putzen und Melken. In Campo Bravo quetsche ich zum ersten Mal Milch aus einem Kuheuter. Laura grinst über mich. Mit ihren 11 Jahren kann sie das natürlich schon viel besser. Alle sind neugierig auf das, was wir zu erzählen haben aus der großen weiten Welt, aus Deutschland. Wir nehmen Post für die Schwester in Bayern mit. Die ganze Familie bringt uns zum Boot. Klar sind wir irgendwo grundverschieden in unseren Lebensideen - aber in manchen Dingen eben auch nicht. Danke Mattheo und Tanja für die schöne Zeit in Eurer Familie!!
Wieder auf dem Fluss müssen wir leider erkennen, dass unser Boot immer noch leckt. Torsten hatte zwar einen Flicken erneuert, aber inzwischen müssen wir aller zwei Stunden nach pumpen. Gar nicht so leicht, wenn es keine Sandbänke mehr gibt. Der Fluss ist in den letzten zwei Tagen um mehr als einen Meter gestiegen. Die Strömung ist stärker. Das Wasser schwappt über die Uferkanten bis in den Wald. Damit wird die Nachtplatzsuche schwierig. Aber von Mattheo wissen wir, dass wir bis heute Abend einen Flecken namens „Mala noche“ (schlechte Nacht)erreichen können. Der Name klingt zwar eher abschreckend - aber die Familie soll sehr nett sein und hat sogar ein Funkgerät. Wir werden eine ?gute Nacht? haben mit Don Jorge dem Familienoberhaupt, bei Coca und Ceibo. Seit 35 Jahren wohnt er schon hier in der Einsamkeit. Gerade bauen sie ein neues Haus flussaufwärts, da der Madidi sich im letzten Jahr gefährlich nahe durch die Uferböschung gefressen hat. Der ewige Kreislauf - Leben am und im Fluss. Das mit dem Radio hat auch noch geklappt. Nach ewigem Geknister und Gerausche stand eine Verbindung zur Funkstation in Rurrenabaque. Cachi ist erleichtert von uns zu hören, schreibt eine Beruhigungsmail nach Hause, kann uns aber kein kaltes Bier schicken?
Nicht nur der Fluss hat sich verändert. Wir sehen immer noch Tiere aber weniger und alles ist eben nicht mehr so unberührt wie am unzugänglichen Oberlauf. Wir hatten Glück, beim jetzigen Wasserstand würden wir da oben auch vergeblich nach Sandbänken zum Übernachten suchen. Immer wieder treiben auch größere Baumstämme an uns vorbei. Torstens Markierungen auf der Karte erweisen sich fast alle als wirkliche Dörfer. Damit ist unser Übernachtungsproblem gelöst. In „Esperanza de Madidi“, einen Paddeltag vor der Mündung in den Beni, treffen wir auf eine erste Einkaufsmöglichkeit. Donna Enka, eine Maschine vor dem Herrn, hat wahre Schätze auf ihrem zweistöckigen Boot. Vor allem für Melwin und Torte war das zur Neige gehen gewisser Vorräte eine tägliche ernsthaft Bedrohung. Sie hat auch eine Kühltruhe und sie hat auch zwei eiskalte Bierchen für uns! Zisch!!! Es ist gerade „Kastania-Zeit“ (Paranuss-Ernte). Donna Enka ist Aufkäuferin. Manchmal verschwinden Familien tagelang im Wald zum Nüsse sammeln. Die Früchte müssen mit der Machete aufgeklopft werden. Dann werden die einzelnen Nüsse herausgeklaubt. Gewaschen und geschält werden sie ebenfalls per Hand. Was für ein Aufwand! Ironischerweise habe ich gerade einen von Oma Gerdas Snacks in der Hand: Studentenfutter mit Paranüssen? Einmal um die Welt und wieder zurück. Wir feixen bei der Vorstellung.
24 Hühner, 4 Schweine und ein Kapitän
Langsam aber sicher müssen wir uns über die Rückfahrt nach Rurre Gedanken machen. Unser kleines blaues Schlauchboot müsste fürs Weiterpaddeln generalüberholt werden. Der Beni ist dann auch doppelt so breit wie der Madidi, randvoll und nicht gerade einsam? alles in allem nicht gerade verlockend. Am Ende bieten sich zwei Möglichkeiten. Wir könnten mit einem Kastania-Händler zwei Tage den Beni runter fahren bis zur Pontonfähre bei „Pena Maria“. Von dort kommt man immer nach Riberalta und von Riberalta fahren meistens Busse nach Rurrenabaque. Oder Don Rodrigo nimmt uns mit seinem Peque-Peque mit den Beni hinauf bis direkt nach Rurrenabaque. Das wären dann nochmal fünf Tage auf dem Fluss. Fünf Tage Urwaldfluss mit dem Geheule der Brüllaffen als Weckruf am Morgen. Da geraten wir doch ein wenig ins Diskutieren. Schließlich entscheiden wir uns für Don Rodrigo. Sechs Uhr morgens stehen wir staunend am Boot. Vor dem Motor ist der Schweinestall mit lebenden vier Schweinen. Obendrauf türmt sich Trockenfleisch aus toten Schweinen. Dazwischen zwei junge Hühner. Davor haben sich?s seine Frau, die Tochter und ein Enkel und Rosa bequem gemacht. Dann kommen leere Gasflaschen und oben drauf unser Gepäck und dann hätten wir da im Bug noch den Hühnerstall mit 24 Hühnern? noch lebend. Dann wird noch eine Art Mähbalken ohne Balken vor unsere Füße gehievt. Jetzt kommt noch einer mit einem Moped. An diesem Punkt wirken wir etwas störrisch und machen gaaaanz lange Beine. Das Moped bleibt da. Nun haben wir sogar Platz zu kochen. Wir backen jeden Tag herrliche Pfannkuchen mit Knoblauch und Käse zum Frühstück. Unser Mehl konnten wir ja während der Paddelei gar nicht nutzen.
Die letzten Kilometer auf dem Madidi. Wehmut macht sich breit. Na gut, noch ist das Abenteuer ja nicht vorbei! Als wir in den Beni einbiegen, ist die Strömung so stark, dass wir eine Weile auf der Stelle dümpeln bei voller Motorleistung. Schließlich pegeln wir uns auf rasende 7 bis 10 km/h ein. Noch 200 km Luftlinie bis Rurrenabaque. Hat sich der Kapitän mit seinen geschätzten fünf Tagen etwa übernommen? Aber er hält Wort. Am 5.Tag sehen wir zum ersten Mal die Serrania von Rurrenabaque. Zwei Stunden vor Rurre erwischt uns der einzige Regen in fünf Tagen. Dafür müssen wir nun sogar anhalten, weil man die Hand vor Augen nicht sehen kann.
Nach 22 Tagen und 650 oder mehr Paddelkilometern sind wir wieder da - gesund, verdreckt, halb verschimmelt, aber sehr zufrieden und mit 'nem Kopf voll neuer Ideen.