Chaos Total in La Paz
La Paz Bolivien, 12.02.2003
Als wir 7:00 Uhr am Terminal de Busses in La Paz ankommen ist alles wie immer. Die Stadt lebt, gleicht einem Ameisenhaufen. Überall Märkte, bunt gekleidete Indigenas, Chaos auf den Strassen. Wir wollen diese unglaubliche Metropole in vollen Zügen in uns aufnehmen, sie mit allen Sinnen spüren. Deshalb laufen wir die 45 Minuten zum Hotel Torino, unserer Stammunterkunft, und bekommen sogar "unser" Zimmer mit Blick auf die Katetrale an der Plaza Murillo. Das Hotel ist ein altes traditionelles Kolonialhaus mit einem riesigen Patio außerhalb des Touristenviertels von La Paz. Um die Plaza Murillo herum liegen viele wichtige Gebäude z. B. das Parlamentsgebäude, der Präsidentenpalast und eine Polizeikaserne.
Als erstes gehen wir Frühstück einkaufen. Endlich gibt es wieder selbst gemachten Kaffee, frische Eier, Wurst, Käse und Brötchen die nicht mit einer Tonne Zucker gebacken sind. Diese waren in den vorangegangenen fünf Wochen auf Feuerland und in Patagonien eine Seltenheit. Als erstes erholen wir uns von der zwölfstündigen Busfahrt von Potosi über den Altiplano nach La Paz.
Plötzlich, gegen 10:00 Uhr, wird es auf der Plaza laut. Eine Demonstration kündigt sich an. Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches, deshalb bleiben wir im Bett. Als aber Explosionen von Tränengasgranaten zu hören sind und das Gas bis in unser Zimmer eindringt, fangen auch wir an etwas unruhig zu werden.
Kurze Zeit später hält man es nur noch mit Mund- und Augenschutz aus. Wir sitzen mit über den Kopf gestülpten Handtüchern und T-Shirts in unserem Zimmer. Wir beschließen, uns die Sache aus der Nähe zu betrachten.
Gemeinsam verlassen wir das Hotel und wagen uns bis zur Straßenecke an die Plaza Murillo heran. Der Platz ist gefüllt mit aufgebrachten Menschen: Schüler in ihren Uniformen, Zivilisten, Polizisten und Militärs. "Wer gegen Wen?" und "Wofür?" ist auf den ersten Blick nicht auszumachen. Urplötzlich pfeifen mehrere Salven scharfer Schüsse über unserer Köpfe hinweg. Wir rennen mit den fliehenden Bewohnern und Straßenhändlern hinunter zum Prado, der Hauptschlagader der Metropole.
In der Hoffnung, dass sich die Situation, wie sonst auch, bis zum Abend beruhigt laufen wir zum Touristenviertel. Hier geht alles seinen gewohnten gang. Man hört die Schüsse aber niemanden scheint das zu stören. Läden und Agenturen haben normal geöffnet.
Wir finden einen hilfsbereiten bolivianischen Bergführer, der uns auf den Gipfel unseres zweiten "6000ers" führen soll - richtig mit Seilschaft und Steigeisen. So lang wie letztes Jahr, als es um den Nevado Chachani (6057 Meter) in Peru ging, brauche ich diesmal nicht mit Ilka zu diskutieren. Die unsichere Lage in der Stadt beschleunigt die Entscheidung.
Während wir noch eine Tasse Kaffee trinken, braut sich in La Paz weiter das Unheil zusammen. Wir sehen große Demonstrantengruppen. Mit Stöcken und Steinen bewaffnet ziehen sie zum Palast des Präsidenten. Auch wir wollen endlich wissen was los ist. Auf dem Weg zurück zum Prado schwant uns nichts Gutes. Viele Marktstände sind schon abgebaut. Ganze Horden von Marktfrauen rennen die schmalen Gassen hinauf. Wir schließen uns ihnen einfach an. Sicher ist sicher. Zumal immer wieder Schüsse und Explosionen zu hören sind. Die Lage scheint doch ernster zu sein als gedacht.
In einer Straßenkneipe, hinter dem Mercado Negro, entdecken wir einen Fernseher. Wir erfahren, dass die Polizei und so ziemlich die gesamte Bevölkerung gegen den Präsidenten und das Militär demonstriert. Es geht um die zu entrichtende Steuer. 12 Prozent mehr fordert El Presidente. Jetzt bringen sie auch noch Live-Bilder und die Kamera. Das Militär schießt scharf in die demonstrierenden Massen. Eine Kamera auf dem Dach neben dem Hotel Torino filmt unseren Straßenzug. Es gibt mehrere Tote und viele Verletzte. Sirenen heulen, Krankenwagen bringen Angeschossene in die Kliniken. Uns wird klar, dass wir die Stadt so schnell wie möglich verlassen müssen.
Aber was wird aus unserem Gepäck? Wir beschließen wieder ins Touristenviertel zurück zu kehren. Vielleicht kann uns dort jemand helfen. Auf dem Weg dahin, müssen wir wieder an einem der zahlreichen öffentlichen TV-Geräten vorbei. Dicht gedrängt stehen 50 Leute vor dem kleinen Fernseher. Die Berichte werden immer dramatischer. Schwer bewaffnete Polizisten rasen mit ihren Motorrädern durch die schmalen Gassen. Überall brennende Blockaden. Ministerien und Banken gehen in Flammen auf? Extrem gefährlich ist die Situation vor allem deshalb, weil sich mit Polizei und Militär zwei bewaffnete Parteien gegenüber stehen! Die Mitarbeiter der Agenturen und Hotels sind genauso ratlos und unentschlossen wie wir.
18:30 Uhr fassen wir einen Entschluss: Wenn wir die Stadt verlassen, dann nur mit Gepäck! Wir nehmen all unseren Mut zusammen und laufen zügig Richtung Hotel Torino. Wir wissen, die Unruhen richten sich nicht gegen uns Ausländer. Für den Ernstfall legen wir Treffpunkte außerhalb des Regierungsviertels fest. Mit Tunnelblick marschieren wir los. Bloß nicht stehen bleiben! Tausende sind auf den Straßen und Plätzen unterwegs. Zum Glück sind wir nicht der Stein des Anstoßes. Vor unserer Hoteltür gibt es Blutlachen. Schrecklich! Schnell werden wir vom Portier eingelassen. Hinter uns schließt sich die schwere Holztür und wird zusätzlich von innen verrammelt. Nun sind wir zwar bei unseren Rucksäcken, aber sitzen auch in der Mausefalle. Wir können unsere Unterkunft nicht mehr verlassen.
Mit Einsetzen der Dunkelheit eskalieren draußen die Auseinandersetzungen auf ein Neues. Von unserem Balkon haben wir ungewollt Ausblicke auf die Geschehnisse direkt unter uns. Geschäfte werden geplündert. Alles Brennbare wird auf die Straßen geworfen und von den wütenden Massen verheizt. Plötzlich taucht mit lautem Geschrei eine schwer bewaffnete Einheit Militär auf und besetzt die Kreuzung rechts unter uns. Es gibt viel Gebrüll. Sie hat die Aufgabe je einen Häuserblock in jede Himmelsrichtung rund um die Plaza Murillo zu säubern. Es gibt kein Entrinnen mehr. Wer es bisher nicht ins Hotel geschafft hat, kommt auch nicht mehr rein, und wir nicht mehr raus.
Auf jeden, der die Straße betritt, wird scharf geschossen. Einfach um das Gefühl zu haben trotzdem nicht hilflos ausgeliefert zu sein, durchsuchen wir die labyrinthartigen Gänge des Hotels nach Feuerleitern und möglichen Türen, die uns im Ernstfall über das Dach ins Freie führen könnten. Die meisten anderen Reisenden sind ebenso entsetzt über die Ausmaße der Unruhen. Immer wieder trifft man sich unten an der Rezeption vorm Fernseher, in der Hoffnung auf positive Neuigkeiten. Nur vier Amerikaner haben sich wohl gesucht und gefunden. Sie stehen schwatzend und immer wieder laut auflachend(!) mit Fotoapparaten und Videokameras auf einem der Balkone. Als ob das Ganze ein unterhaltsames Schauspiel wäre statt blutiger Ernst. Dabei sind die Soldaten da unten mit ihren 16 Jahren noch halbe Kinder, vollkommen überfordert und unberechenbar. Sechs Wochen später erklärt die Busch - Regierung dem Irak den Krieg.
Bis in die frühen Morgenstunden sind Explosionen und Schüsse zu hören. Mit zitternden Knien kriechen wir irgendwann ins Bett. Wirklich geschlafen hat in diese Nacht keiner von uns.
6:00 Uhr. Alles ist ruhig. Doch die schwelenden Feuer und die bedrohlich, präsenten Militäreinheiten erinnern an den Ernst der Lage. Ilka telefoniert mit unserem Bergführer. Besteht irgendeine Möglichkeit, mit Fahrzeugen aus der Stadt zu kommen, holt er uns ab.
Sämtliche Ausrüstung und Proviant hatte er in weiser Voraussicht schon am Vortag nach "El Alto" gebracht. Sollten die Ausfallstrassen blockiert sein, könnten wir so notfalls auch zu Fuß aus dem Talkessel raus. Auf keinen Fall sollen wir auf eigene Faust das Hotel verlassen. Tatsächlich erscheint 7:00 Uhr ein Taxi. Wir fahren mit geduckten Köpfen durch Militärsperren. Auch den Soldaten steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Weiter geht es über Schleichwege hinauf nach "EL Alto". Dieser Stadtteil liegt auf 4000 Meter Höhe. Hier leben die Ärmsten der Armen. Oben angekommen, haben wir einen freien Blick hinunter in den Talkessel der Stadt. Das Ausmaß der Straßenkämpfe der letzten 24 Stunden ist kaum in Worte zu fassen. An einigen Stellen lodern immer noch die Feuer der Blockaden. Der Gestank und die dunklen Rauchwolken ziehen bis hier oben herauf.
30 Tote und 80 Schwerverletzte lautet die nüchterne Bilanz der letzten Nacht.
Nach endloser Warterei treffen wir in der verabredeten Seitengasse auf Eduardo, unserem Bergführer. Mit dem Jeep lassen wir La Paz hinter uns und fahren zu unserem Berg. Bloß weg aus der Stadt! Drei Stunden später können wir schon die Spitze des 6088 m hohen Huayna Potosi sehen. Im Basiscamp auf 4700 m kommen wir langsam auf andere Gedanken.
Wir laufen noch 30 Minuten bis zum Gletscher. Eduardo erklärt uns den Umgang mit Eisäxten und Steigeisen. Langsam konzentrieren sich unsere Gedanken auf das Kommende, auf unseren Berg. Gegen 16:00 Uhr kehren wir zum Basiscamp zurück. Hier gibt es sogar eine kleine beheizte Hütte, aber leider auch wieder schlechte Nachrichten aus La Paz. Mittlerweile ist die Armee mit Panzern in die Stadt eingerückt. Sämtliche Ausfallstrassen sind blockiert ...
Ilka versucht via Funkgerät eine Meldung in die Stadt abzusetzen. Bekannte von Eduardo sollen dann, falls möglich, eine E-Mail nach Deutschland schreiben, um verlässliche Freunde in Leipzig über unser Verbleiben zu informieren. Den Text müssen wir in Englisch verfassen, maximal zwei Sätze. Eduardo gibt sie durch. Hoffentlich klappt es?!
Total erschöpft kriechen wir heute sehr zeitig in unsere Schlafsäcke.
Später beschließen wir, die Vorkommnisse gegenüber unseren Müttern zu verschweigen, senden aber einen Tatsachenbericht an unsere Freunde, darunter einem Journalisten. Dummerweise lesen unsere Familien einige Tage später einen Bericht über "Chaos Total in La Paz" in der Freien Presse Chemnitz. Verfasser sind ihre eigenen Kinder. Somit waren die ganzen "Friede - Freude - Eierkuchen" - Mails umsonst.
Gescheiterte Gipfel-Träume
Huayani Potosi Bolivien
Der erste Blick aus dem Zelt schreckt ab. Graue Wolken hängen im Tal. Auf den Zeltwänden liegt frischer Schnee. Nach einem ausgiebigen Frühstück geht es bei Nieselwetter endlich los. Unser heutiges Ziel ist das Hochlager auf 5130m. Trotz Wolkenschwaden sind die dreieinhalb Stunden nicht besonders anstrengend. Unsere gute Höhen-Akklimatisation zahlt sich jetzt aus. Die Etappe bietet gigantische Ausblicke auf den Gletscher. Das "Campamento roca" (Felsencamp) macht seinem Namen alle Ehre. Unsere Zelte stehen wie auf einem Adlernest. Am Nachmittag steigen wir zur Gewöhnung noch 200m höher. Ich fühle mich sehr gut. Bergab rutschen wir auf unserem Armeeponcho. Die Leute einer anderen Gruppe, welche mit uns die Nacht am Hochlager verbringen, können nur mit dem Kopf schütteln. Gegen 19.00 Uhr legen wir uns zufrieden ins Zelt. Es ist sternenklar und eiskalt.
Mitternacht ist Wecken, Gurte anlegen, Steigeisen einstellen, Coca-Tee trinken. Ungefähr 950 Höhenmeter liegen vor uns. Von der vorausgegangenen Gruppe sehen wir ab und zu den schwachen Schein ihrer Stirnlampen. Nach zweieinhalb Stunden auf teilweise sehr schrägem und abschüssigem Gelände erreichen wir das "Campamento Argentino". Der Schnee glitzert und funkelt im Mondlicht.
Eine fast senkrechte Wand, 10 Meter im Durchstieg, ist das klettertechnisch schwerste Teilstück der Gipfeletappe. Wir kommen gut durch und benötigen eine weitere Stunde zum letzten großen Plateau. Von hier aus, sind es noch 200 Höhenmeter bis zum Gipfel. Ilka, die mich die ersten vier Stunden förmlich am Seil gezogen hat, wird immer langsamer. Ständig gehe ich zu ihr auf und muss dann warten, bis das Seil wieder straff ist. Plötzlich will sie nicht mehr! Die Eiseskälte auf 5850m macht ihr arg zu schaffen. In den Händen und Füßen hat sie kein Gefühl mehr. Es ist stockdunkel. Bis die Sonne aufgeht und wärmt, vergehen noch über zwei Stunden. Da es mir körperlich blendend fühle, dauert es fast 10 Minuten bis ich mich entscheide, mit Ihr zurückzugehen. Die andere Alternative wäre gewesen, mit Eduardo weiter zum Gipfel zu gehen.
Ilka hätte zwei bis drei Stunden warten müssen und sich dabei nur in einem Radius von zehn Metern bewegen dürfen. Alles andere ist zu gefährlich. An einen alleinigen Abstieg ist nicht zu denken. So geben wir gemeinsam auf und treffen wenig später auf die Seilschaft der anderen Gruppe. Die Jungs sehen auch schon sehr mitgenommen aus. Wie weit werden sie wohl heute noch kommen? Das Hochlager ist schnell erreicht. Langsam schiebt sich die Sonne über die Anden. Der Himmel fängt förmlich an zu glühen. Ich verschieße fast einen ganzen Film. Ilka liegt steif gefroren im Zelt. Finger und Zehenspitzen sind dunkellila unterlaufen. In zwei Schlafsäcke eingepackt, kehrt langsam die Wärme in ihren Körper zurück.
Und trotzdem. So knapp vor dem Ziel zu scheitern, vor allem wie!
Mit nur einem paar Socken, die dicke Jacke und die Daunenhandschuhe im Rucksack! Logisch das man den für uns schwierigen Berg so nicht besteigen kann. Noch schlimmer ist, dass ich frei von Kopfschmerzen, mit Sicherheit auf dieser Tour noch genug Reserven gehabt hätte...
Richtig war die Entscheidung gemeinsam abzusteigen trotzdem. Manchmal gehört eben zum Umkehren mehr Mut als zum Gipfelsturm. Vor allem, wenn man sich schon gut 750 Höhenmeter hoch gekämpft hat.
Nach zwei Stunden Ausruhen steigen wir hinunter zum Basiscamp. Mit dem Jeep geht es zurück nach La Paz. Am Abend werden die drei schönen Tage mit eine Flasche "Cuba libre" gefeiert.
In La Paz herrscht im Moment eine angespannte Ruhe. Nur die Einschusslöcher und die ausgebrannten Häuser erinnern an die tragischen Ereignisse der letzten Tage.
Die Bolivianer spinnen manchmal. Echt!
Reiseroute
Chile, Argentinien, Bolivien - Patagonien: NP Torres del Paine , Feuerland: NP Tierra de Fuego, Nordchile: NP Pan de Azucar, Lauca Nationalpark, Potosi, Cerro Rico, Oruro, La Paz, Huyani Potosi 6088m, Titicacasee, Wanderung: Apollo-San Rose-Tumubasa-Rurrenabaque, Coroico, La Paz