48 Stunden zu spät? – Medizintour Rio Beni Februar/März 2018
Noch ist Leben in dem dürren Bündelchen. Aber was sich uns nach dem Öffnen des Tragetuchs offenbart, verschlägt uns den Atem. Veit und Conny erwarteten in Rurrenabaque jeden Tag die Nachricht, zum ersten Mal Großeltern zu werden. Der Anblick nimmt sie daher besonders mit… und die böse Ahnung zu spät zu kommen…
Neue Woche – neues Team. Drei Tage haben wir gebraucht zum Ausrüstung reinigen, Medikamente und Verpflegung aufstocken. Jetzt stehen wir wieder am Hafen und beladen unser Boot. „El bote de mi sueno“ – der Name ist Programm. Rolf, Otto und Torsten werden auf der Tierstation arbeiten. Zahnärztin Sonja musste nach La Paz und Mabel legt in Santa Cruz eine zusätzliche medizinische Prüfung ab. Tja, und unser guter Motorista Esteban ist plötzlich verschwunden. Also wird Melvin das Boot ohne Puntero steuern müssen. Zum Glück führt der Rio Beni mehr Wasser als der Quiquibey. Vera Cruz aus der eigenen Klinik fährt als Ärztin mit. Sie hat ihren Neffen Luis dabei, da ihr Schwester gerade operiert wurde und nun mit entzündeter Wunde zu Hause liegt. Fabiana ist frisch examinierte Zahnärztin und wird quasi auf Dschungeltauglichkeit getestet. Carlos vom Hospital und Josello, der Administrator der Rio-Beni-Fundacion, sind auch wieder dabei. Mit im Boot sitzen außerdem Conny und Veit aus Chemnitz. Sie unterstützen unseren Verein seit vielen Jahren und wollen nun endlich mal sehen, wie vor Ort gearbeitet wird und dabei selbst mit Hand anlegen.
… und Hände brauchen wir viele, denn die kurze Medizintour zeichnet sich vor allem durch größere Dörfer und viiiiiel lääääängere Wege aus. Bereits unsere erster Haltepunkt „La Embocada“ hat es in sich. 45 Minuten Marsch. Es ist heiß und der Weg besteht über einige Passagen nur noch aus Brettern auf Baumstümpfen und Holzklötzern. Veit lädt sich eine der Medikamentenkisten auf die Schultern, während ich mit Conny die Metallkiste zu zweit trage, so lange es eben geht. Der Weg zieht sich und es ist nichts vom Dorf zu sehen oder zu hören. Nach der Flutkatastrophe 2014 haben sie sich so weit vom Fluss zurückgezogen. Auch hier gibt es zwar ein Schulgebäude, aber der Lehrer ist immer noch nicht da, was das organisieren der Zahnputzschule mitten am Tag schwierig macht. Die Häuser liegen weit auseinander, einige Familien kommen erst vom Feld und wir kochen derweil im eigenen Saft unterm Wellblechdach. Veit und Conny haben ihren ersten Arbeitstag in der Apotheke. Vera Cruz diktiert mir das Rezept. Ich rufe die Bestellung in deutsch-spanisch quer durch den Raum zu Conny und los geht die Sucherei. Es dauert immer, bis man sich ein gefitzt hat. Selbst Josello, der mit mir gepackt hat und die Medikamente bestellt, muss suchen. Das liegt an der verwirrenden Verpackungsgestaltung in Bolivien, der unterschiedlichen Namensgebung je nach Firma bei gleichem Wirkstoff und den Transportbedingungen. Aber mit jedem Dorf wird es leichter und den Job als „Doktor Luftballon“ kann man auch ohne Spanisch exzellent bewältigen!
Für den Rückweg bekommen wir zwar Schubkarren aber der Parcours über die Bretter ist alles andere als schubkarrentauglich, so dass wir öfters heben statt schieben. Conny und Veit merken bereits jetzt, wie vor allem das Klima schlaucht. Wieder im Boot ist unser nächstes Ziel „Charque“. Von da wollen wir noch heute Abend weiter nach „Torewa Indigena“. Die Comunidad ist so groß, dass wir einen ganzen Tag einplanen müssen. Wir könnten also 2x da übernachten, das spart mühselige Schlepperei – der Plan zumindest war gut! Denn es dämmert schon, die Moskitos lösen gerade die Sandfliegen ab und wir haben immer noch Patienten. Wir müssen also doch alles Gepäck hier ausladen und übernachten. An sich ist die Comunidad schön. Es gibt ein großes Dach für unsere Zelte. Aber es ist weder ewig weit weg vom Boot…. Zum Glück übernehmen die Männer des Dorfes den Transport. Die letzte Patientin des Tages ist Conny. Seit drei Wochen (während einer der berüchtigten Nachtbusfahrten mit Klimaanlage) schleppen die zwei schon eine hartnäckige Erkältung mit sich rum. Die Schlepperei gleich zum Anfang war zu viel, dazu das Klima und die Insekten. Mit Antibiotika und einer Injektion krabbelt sie erschöpft ins Zelt. Während Conny sich hoffentlich gesund schläft, sitzen wir bei Vollmond zusammen, bitten „Pacha Mama“ um eine sichere Reise und stoßen auf eine gute gemeinsame Tour an.
Conny geht es schon viel besser – also auf in den Kampf! Nach 2 Stunden Bootsfahrt den Beni aufwärts erreichen wir das „Ortseingangsschild vom ersten Torewa. Wir schultern erstmal nur alles, was wir für die Sprechstunde benötigen und hoffen für den Rest auf Schubkarren und Hilfe. 10 Minuten Fußmarsch später liegt das Dorf wie ausgestorben vor uns. Wir schlagen vorsichthalber mal die Schulglocke – heißt ich dresche mit einem Flussstein auf eine alte Autofelge ein. Wie auch immer die hier her kommt… tatsächlich taucht einer der Lehrer zwischen den Bananenstauden auf. Es ist Dorfvollversammlung – aha! Wie lange denn noch? Ca. 1-2 Stunden. Ok, da lohnt es sich nicht erst, in die nächste Comunidad zu fahren und alles wieder zurück zu schleppen. Wir kochen Mittag und behandeln dann. Aber irgendwie geht nichts los – deutsche Unruhe breitet sich aus, denn das ist jetzt nicht effizient hier! Schließlich stapfe ich mit Josello zur Dorfversammlung. Dort ist man ganz erstaunt. Man wusste gar nicht, dass wir warten und alle wollen sofort aufspringen… Misterioso, misterioso… 1 Stunde später stapeln sich bei Josello die Patientenakten. Familie für Familie wird behandelt. Josello sitzt vor der Schule im Gewusel und wir schmoren drin, aber dafür zumindest räumlich etwas abgeschirmt. Aber bei 8,9,10 Kindern pro Frau ist es trotzdem bald schon voll und je mehr Mensch, desto mehr Sandfliegen und desto warm…. Und wenn das große Heulen los geht, liegt das entweder an der „fürchterlichen Waage“ oder Carlos Impfpflichten. Die neue Zahnärztin bekommt auch ordentlich zu tun. Leider fällt sie als Tragehilfe und zupackende Hand prinzessinnenmäßig völlig aus und ist somit nicht gerade teamtauglich. Hut ab, was Conny und Veit schleppen und das obwohl auch Veit in den Tagen behandelt werden muss!
Auch wenn hier niemand viel hat, gibt es trotzdem Unterschiede – auch nach „arm“ und „reicher“. Josello erscheint mit ernstem Gesicht in der Tür, flüstert zuerst mit Carlos und kommt dann an unseren Tisch. Ein Mädchen, 7 Monate – drei Kilo! Vera Cruz unterbricht die Behandlung. Carlos winkt die Mutter herein. Sie soll die Kleine auf die Bank legen und dann öffnet sich das Tragetuch… Der Kopf wirkt bereits wie ein knöcherner Totenschädel. Beine und Arme sind nur noch Haut und Knochen. Der Bauch ist aufgebläht. Es stinkt furchtbar nach Durchfall – 3 Kilo!!!! Sofort versuchen Carlos und Vera Cruz die Mutter zu überzeugen, nach Rurre ins Krankenhaus zu gehen. Natürlich fragen sie auch, warum sie dort nicht längst ist. Die Behandlung ist kostenlos. Allerdings dauert sie beim jetzigen Zustand auch mehrere Wochen und die anderen 6 Kinder? …. Kein Geld…. Vera legt der Mutter das Kind an die Brust. Der Saugreflex ist da – warum ist das Kind so unterernährt und dehydriert? Warum? Wir haben nichts, womit wir dem Baby wirklich helfen können – Nährlösung, Tropf, spezielle Babymilch. Wir haben höchsten noch Milchpulver. Melvin kommt mit einer Dose aus unserem Lebensmittelvorrat. Das ist besser als nichts! Vielleicht können wir die Mutter ja überzeugen mit uns nach Rurre zu kommen. Die Kleine stirbt noch in der selben Nacht. Wir waren 48 Stunden zu spät….
Es warten noch so viele Patienten, dass wir nicht wie geplant, am nächsten Morgen in die nächste Gemeinde starten können. Bis zum Mittag brauchen wir mindestens. Ausgerechnet in der Mittagshitze ziehen wir um. Heute hat es Veit erwischt. Das zweite Torewa liegt noch weiter weg vom Fluss, zwar an einem Altarm, aber der ist viel zu flach für unser volles Boot und den Außenborder. Die Idee ist, jemand läuft bis zu ersten Hütte und fragt nach einem kleineren Boot – einem Peque Peque. Aber wir finden erstmal überhaupt keinen Weg. Melvin schlägt sich mit der Machete durchs Ufergehölz. Wir sind uns nicht sicher, was schlimmer ist, das Zeug wieder schleppen zu müssen oder hier inmitten der Insektenwolken bei hochgeschlossenen Hemdkragen zu schmoren. Dann hören wir das Tuckern. Sie haben ein Peque aufgetrieben, allerdings muss dreimal gefahren werden. Mehr passt nicht ins Boot. Und dann sind wir sehr froh, dass wir nicht laufen und schleppen mussten! Hauptsache, wir kommen heute vor Einbruch der Dunkelheit noch nach „Asuncion del Quiquibey“. Sonst schaffen wir morgen den Plan nicht. Aber es dauert mal wieder bis alle aus dem weitläufigen Dorf informiert sind und auch noch die letzten von ihren Chacos eintreffen – es ist halt Erntezeit. Natürlich fahren wir nicht eher, als bis auch der Letzte behandelt ist. Wieder auf dem großen Fluss halten wir deshalb an der ersten geeigneten Sandbank an und bauen unser „Camp“ im letzten Tageslicht auf. Am Ende genießen wir es sogar, so alleine zu sein. Obwohl es in Asuncion zum ersten Mal eine Wasserleitung gegeben hätte und damit sogar eine Freiluftdusche!!! Ach, die eene Nacht halten wir nun och noch aus! Der Mond kämpft sich durch die Wolken und erhellt die Flusslandschaft, den Urwald und die Berge am Horizont. Es ist so schön hier!
Der letzte Tag wird nochmal sehr anstrengend . Über 100 Patienten wird Vera Cruz behandeln. Dazu kommen noch die Zahnarztpatienten und nicht zuletzt die Zahnputzcampagne für 70 Schüler. Man merkt aber auch sofort, dass Asuncion viel besser organisiert ist. Das spart so viel Zeit und es liegt gleich am Fluss.
In den 4 tagen haben wir in 5 Dörfern an die 300 Patienten behandelt. Es gab Gespräche über Empfängnisverhütung und Krankheits-Prävention. Ein paar Patienten werden nach Rurre in die kleine Klinik der Fundacion kommen um notwendige Labortests und EKG zu machen. Dank eurer Hilfe gibt es für die Indigenas vom Rio Quiquibey und Rio Beni einen Fond, der die Kosten deckt. Denn die finanziellen Möglichkeiten haben die Leute vom Fluss nach wie vor nicht. Dazu kommen über 150 Zahnarztbehandlungen. Wir haben in allen Dörfern Zahnputzcampagnen für Kinder und Erwachsene realisieren können. An der Stelle wieder vielen Dank für die vielen Zahnbürsten aus Deutschland!!! Fast allen konnten wir helfen und haben natürlich versprochen wieder zu kommen – spätestens in einem Jahr oder schon im Mai – dann zwar ohne Torsten und mich aber trotzdem finanziert durch eure Spenden für den „Regenzeit e. V“. Bitte helft uns auch weiter! Wir versprechen, die Hilfe kommt genau da an, wo sie am nötigsten ist